Notizen aus dem Eis (138) | Eis, aber anders


Polarkolumne von Birgit Lutz

Birgit Lutz, eine preisgekrönte Autorin und ehemalige SZ-Journalistin, ist Expeditionsleiterin und gefragte Rednerin.
Ihre Polarkolumne erscheint einmal pro Monat auf unserer Homepage.




Bei manchen Menschen bringt Eis etwas in der Seele zum Klingen. Eisberge, Meereis, Spiegeleis. Es gibt jetzt einen Bildband, der schafft das auch.

Bücher und Bilder der Arktis gibt es sehr viele. Ganz ehrlich, die meisten davon schlage ich auf, blättere ein bisschen und mach sie wieder zu. Dann sage ich höflich: Ja, schön. Weil, schön sind sie ja immer, das liegt am Eis selber. Aber..., da passiert nicht viel. Jetzt gibt es einen Bildband, den man eigentlich anders nennen müsste, weil er viel mehr ist.

Es ist ein Buch, das einen mit auf eine Reise nimmt. Aus dem Meer an Büchern, die ich schon zur Arktis, zum Eis, zum Norden gesehen habe, ragt dieser Band heraus wie ein Nunatak aus dem Inlandeis. Selbst wer noch nie arktisches Eis gesehen hat, kann in diesem Buch erleben, wie es ist, dort zu sein, das Eis zu sehen, und vor allem: zu spüren. Es ist ein ganz und gar außergewöhnliches Werk.

Erschaffen hat es der Fotograf Stephan Fürnrohr, es heißt: Vom Wesen des Eises. Der Titel ist auf den ersten Blick ein bisschen naja, halt wieder ein Spiel mit den Schrecken des Eises und der Finsternis, und ich fürchte erst, oh je. Dann schlage ich es aber auf – und mir bleibt die Luft weg. Das Buch fängt an mit Bildern von Point 660.

Das ist der Ort, an dem Grönland-Durchquerungen von West nach Ost beginnen. Die Bilder Fürnrohrs von diesem wundersamen Eisrand stammen aus dem Jahr 2014, ein Jahr, nachdem ich dort stand und losmarschierte. Aus den großformatigen Seiten prallt mir die hügelige Eislandschaft entgegen, die aussieht wie ein gefrorenes, aufgewühltes Meer, dessen Anblick mich damals so überraschte. Und obwohl dieser Ort für grönländische Verhältnisse gut erreichbar ist, habe ich seitdem nie Bilder gesehen, die den Zauber dieses Eises eingefangen haben, und mir selber ist es auch nicht gelungen. Fürnrohr schon. Aus diesen Seiten weht mir urplötzlich dieser kalte Hauch entgegen, der einen begreifen lässt, dass hier ein sehr, sehr großes Eis vor einem liegt. Diese Bilder lassen mich sehr lang auf einer Seite verharren, und dann noch einmal zurückblättern.

Stephan Fürnrohr ist ein Oberpfälzer wie ich, vielleicht bin ich deshalb voreingenommen. 1972 wurde er in Regensburg geboren, seit 2016 ist er Präsident der GDT, der Gesellschaft für Naturfotografie. In Kallmünz betreibt er eine eigene Fotogalerie, und immer wieder zeigt er landauf und landab seine Bilder in Ausstellungen oder Vorträgen. Ich verfolge seine Arbeit schon lange, ich habe schon oft Bilder, die er in den sozialen Medien gepostet hat, bewundert. Schon da dachte ich mir immer, diese Fotos sind anders. Was auf dem Bildschirm schon so wirkte, wird in dem Buch noch viel klarer.

Fürnrohr ist Mitglied im Berufsverband Bildender Künstler. Dieses Selbstverständnis als Künstler wird in Fürnrohrs Bildern deutlich. Er arbeitet vor dem Bild, nicht danach: Sein Ziel ist es, die Welt so abzubilden, wie er sie sieht. Perspektive, Bildausschnitt, Einstellungen – daran feilt er, das ist sein Tun. Die entstandenen Bilder werden nicht manipuliert, verstärkt, verfälscht. So ähnlich steht es in der Buchbeschreibung, und genau das ist es, was ich spüre, genau das wird sehr deutlich, wenn ich die Seiten umblättere: Diese Bilder sind echt.

Hier hat niemand den Kontrast verschärft, das blau blauer und die Wolken schärfer gemacht. Dieses Eis sieht so aus, wie das Eis aussieht. Man muss auch Verlag und Druckerei beglückwünschen, dass das so hochwertig gelungen ist, übrigens!

Fürnrohr ist seit Jahrzehnten schon im Eis unterwegs. Ich will mir gar nicht ausdenken, wie viel Tausende Euro schon in Reisekosten in diese entlegenen Winkel geflossen sind, wie viel Zeit in der Kälte er verbracht hat, wie oft er seine Hände geschüttelt haben mag, um sie wieder aufzutauen nach einem Bild.

Hier sind auch keine schnellen Drohnenfotos zu finden. Fürnrohrs Luftaufnahmen sind aus Huschraubern oder Flugzeugen aufgenommen, oder er ist auf Berge gestiegen. Er ist hinein ins Eis, und ich wage zu behaupten: Nicht, um dann mit großen Worten und auf die Brust klopfend vom großen Abenteuer zu berichten. Fürnrohr hat gespürt, was das Eis ist, was es kann, wie es einem zusetzen und wie es einen erheben kann. In seinen Bildern lese ich eine große Demut, eine große Liebe zu dieser Welt, die so unglaublich schön und doch so zerbrechlich ist, und es schwingt in einigen Seiten auch das Bedauern mit, das wir sie so schlecht behandeln.

Doch insgesamt ist es kein trauriges Buch. Es ist ein Band, der diese Schönheit feiert, auf eine so gewaltige wie zarte Weise. Als ich am Ende dieses Bands angekommen bin, die Worte Fürnrohrs zur Endlichkeit des Eises lese, das Buch zuklappe und nochmal in den Händen halte, sehe ich den Titel anders. Das Wesen des Eises, das hat Stephan Fürnrohr wirklich eingefangen. Vielleicht hat dieses Buch diesen Titel als Einziges überhaupt verdient.

Stephan Fürnrohr: Vom Wesen des Eises, KUNTH Bildband, 59 Euro.

Wir lesen uns im November!

Polare Grüße,
Eure
Birgit Lutz



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